1989 - das „Jahr der Völker“
Die Ereignisse, die Mittelosteuropa 1989 veränderten, werden oft als „Herbst der Völker“ bezeichnet, obwohl bekannt ist, dass im Herbst nur noch die Folgen des Umbruchs zu beobachten waren, der bereits früher stattgefunden hatte. Es ist für die heutigen Gesellschaften und für die Zukunft Europas wichtig zu verstehen, was die Quintessenz dieses Prozesses war, der die Geopolitik des Kontinents radikal veränderte.
Der 4. Juni 1989 wirft ein Schlaglicht auf den gesamten Prozess. An diesem Tag kam es in Polen ohne Blutvergießen zur entscheidenden Wende, während die Proteste in China in einem Massaker endeten. Angesichts des Ungleichgewichts der Kräfte – die Machtlosigkeit der Gesellschaften gegenüber den militarisierten Machthabern – konnte das System weder durch einen bewaffneten Kampf noch durch Straßendemonstrationen allein zerschlagen werden. Notwendig war das Moment einer allgemeinen Gehorsamsverweigerung, der den Funktionären den Willen nehmen würde, das System weiterzutragen. So wie es sich in Polen ereignete.
Der Wende in Polen war ein für kommunistische Länder ungewöhnliches Jahrzehnt vorausgegangen. Zehn Jahre, deren Symbol die „Solidarność“ war, führten zu einer systemkritischen Haltung in der überwiegenden Mehrheit der Gesellschaft und nicht nur in der überzeugten Opposition. Allein schon die Legalisierung regierungsunabhängiger Gewerkschaften im September 1980 und der wenige Monate später erfolgende spektakuläre Streik, der die kommunistische Regierung traf und das Land für vier Stunden paralysierte, definierten die außergewöhnliche Beziehung zwischen der Regierung und den unterdrückten Massen. Trotz des erfolgreichen Angriffs auf die „Solidarność“ im Dezember 1981, erwiesen sich die Väter des Kriegszustandes mit der Zeit als das schwache Glied innerhalb des Systems.
Die seit 1979 von der Opposition offen verfolgten Bestrebungen, unabhängige Sozialbewegungen zu bilden, trafen auf
die Botschaft Johannes Paul II. Dem Papst folgend, versammelten sich Millionen auf Polens Straßen, und vermittelten
den Eindruck, plötzlich befreit worden zu sein. Derart erfüllte sich die neue soziale Identität in Abgrenzung zu den vorangegangenen vier Jahrzehnten. Nach dem traumatischen Verlust der Staatlichkeit im September 1939, dem heldenhaften, aber niedergeschlagenen Warschauer Aufstand von 1944, dem Verrat der Alliierten in Jalta, dem erfolglosen Kampf des militarisierten Untergrunds in der Nachkriegszeit und der Unterdrückung der Tausendjahrfeierlichkeiten der katholischen Kirche durch die Regierung (1966), war die Gesellschaft erwacht. Nach wiederkehrenden Wellen
der Gewalt, entschied sie sich zum gewaltfreien Widerstand.
Im Herbst 1988 kam es in Polen zum Dialog zwischen den Anführern der „Solidarność“ und der an Macht verlierenden kommunistischen Regierung, was den Auftakt für das Jahr der Völker bildete. Im Januar 1989 gab es noch kaum Anzeichen für einen Systemwechsel in den Ländern des Warschauer Paktes. Im Dezember hatten bereits Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei ihre Souveränität wiedererlangt und auch in der DDR, Bulgarien, Rumänien sowie in den baltischen Staaten war die Möglichkeit eines Systemwechsels offensichtlich. Die erste Jahreshälfte sah den schleichenden Niedergang des Kommunismus, geprägt von der Arroganz und Gewalt der Regierenden (wie etwa in der DDR, der Tschechoslowakei und im sowjetischen Georgien), von Wirtschaftskrisen, gesellschaftlicher Apathie und einem allgegenwärtigen Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Die Kommunisten waren weiterhin in der Lage, jeglichen Widerstand zu ersticken. Die zweite Jahreshälfte, nach dem 4. Juni, dagegen brachte eine lawinenartige Ausbreitung des Freiheitswillen.
Im Juni war deutlich geworden, dass das Abkommen keine oberflächliche, sondern eine tiefgreifende Veränderung des politischen Systems darstellte, auf die die Kommunisten entgegen ihrer üblichen Praxis nicht mit aggressiver Gewalt reagiert hatten. Ab diesem Moment beschleunigte sich die Abfolge der Ereignisse, die evolutionären Entwicklungen schlugen in eine Revolution um. Der Frühling gehörte den Polen. Der Sommer den Ungarn und dem „Baltischen Weg“. Der Herbst den Deutschen, Tschechen, Slowaken und Bulgaren. Mit den ersten Wintertagen waren die Veränderungen auch in Rumänien spürbar.
Drei Jahrzehnte nach diesem Umbruchsjahr erleben wir Versuche einer imperialen Renaissance. Wir müssen verstehen, welche kollektive Identität dem entgegengestellt werden kann. Der gegenwärtige Status quo wird durch die Verträge der Europäischen Union und der NATO abgesichert. Es bedarf jedoch mehr – der Entschlossenheit der Gesellschaften und solcher Taten wie 1989 in Polen. Dank ihnen wissen wir, dass ein ideologisches Imperium nicht zurückkehren darf.
ZBIGNIEW GLUZA, Fundacja KARTA
Bild: Wahlplakat bon Solidarność. Autor Tomasz Sarnecki
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