An einem Mittwochmorgen im September 1963 brach das Unglück über Humlikon herein. Theodor Flacher war damals 20-jährig. Heute hütet er im heimatkundlichen Archiv das Gedenkalbum und hofft, dass das Ereignis nicht vergessen geht.
«Alles, was man wissen muss, steht hier drin.» Es ist ein schlichter Band, der auf dem Tisch im Heimatkundlichen Archiv Andelfingen liegt. Gross und schmal, in beigefarbenes Leinen gebunden, und auf dem Deckel steht nichts als: «Zum Gedenken, Humlikon 4. September 1963».
Ein Mittwoch ist der Tag des Unglücks. Um 7.20 Uhr stürzt im aargauischen Dürrenäsch ein Flugzeug der Swissair ab. Alle 80 Menschen an Bord der Caravelle kommen ums Leben.
Die Swissair-Crew, die ausländischen Fluggäste – und 43 Frauen und Männer aus Humlikon, die allermeisten von ihnen Bauersleute. Sie wollten mit der Landwirtschaftlichen Genossenschaft einen Versuchsbetrieb bei Genf besuchen. Schon am Abend sollten sie wieder zurückfliegen, schliesslich steht das Dorf vor der grossen Ernte.
Ein solches Album steht in manchem Weinländer Haushalt. Jede Familie, die damals Opfer zu beklagen hatte, erhielt ein Exemplar, und das waren viele. Das Dorf verlor einen Fünftel seiner Bevölkerung, an die 40 Kinder wurden zu Halb- oder Vollwaisen. Ihnen ist der Gedenkband gewidmet.
Verfasst hatte ihn Jakob Peter, der ehemalige Zürcher Stadtrat. Er war vom Regierungsrat nach dem Unfall als Verwalter Humlikons eingesetzt worden. Denn im Unglücksflugzeug sassen auch der ganze Gemeinderat sowie weitere Behördenmitglieder.
Wer das Buch aufschlägt, stösst auf eine bedrückende Sammlung an Briefen, Fotos und Zeitungsartikeln. Auf einer Doppelseite kleben die Passfotos aller Humliker Opfer. Weiter hinten folgen die Trauerbriefe von Bundesrat und Zürcher Regierungsrat oder ein grosses Foto vom 20-jährigen Sohn des verunglückten Posthalters, der nun selber die Briefe verteilen muss.
Der Mann auf dem Bild ist Theodor Flacher. Er wurde später tatsächlich Posthalter in Humlikon, wie sein Vater. Inzwischen ist er 70 und pensioniert. Als Mitglied der Archivkommission hütet er die Dokumente zur Katastrophe wie einen Schatz.
«Sie haben es verdient, dass man sie aufbewahrt», sagt er. «Es war ja doch ein einmaliges Ereignis, das man nicht vergessen darf.» Interessierten Gästen öffnet er gerne die Tür zum Archiv.
Zum Beispiel wie überwältigend die Trauerfeier war, die knapp eine Woche nach dem Unfall in Andelfingen stattfand. Zehntausend Menschen strömten zusammen, um der Opfer zu gedenken, über 200 Blumenkränze wurden gespendet.
«Etwas ganz Unwirkliches, fast Gespensterhaftes lag über der Ansammlung», schrieb der Reporter der «Andelfinger Zeitung» damals. «Wohl standen vor uns vier Leichenwagen mit vier Särgen. Aber man wusste, dass sie keine menschlichen Körper bargen, sondern nur Erde, von der Unglücksstätte hergeholt.» Später wurden sie auf dem Friedhof in Andelfingen bestattet, wo heute ein Gedenkstein steht.
Dokumentiert ist auch die Sensationsgier der Boulevardjournalisten. Noch am Unfalltag trafen in Humlikon ausländische Reporter und Fotografen ein, die weinende Waise sehen wollten und in die Häuser eindrangen, um die leeren Schlafzimmer der Opfer zu blitzen.
Tags darauf schob die Kantonspolizei einen Riegel. Sie postierte Beamte mit Schäferhunden vor den Häusern und verbot die Interviews.
Doch auch so wurde Humlikon mit einem Schlag weltberühmt, es wurde zum «Dorf in Trauer». Wo immer ein Humliker sich später vorstellte und sagte, woher er komme, sprach man ihn auf das Unglück an. Vielen wurde das zu viel, und manche begannen, ihre Herkunft zu verschleiern.
«Wir sagten mit der Zeit, wir seien aus Andelfingen statt Humlikon», erzählt Flacher. Das Ereignis erzeugte nicht nur Trauer, sondern auch Solidarität. Leute aus dem In- und Ausland überwiesen Spenden oder anerboten sich, ein Kind zu adoptieren.
Doch vor allem meldeten sich Dutzende, ja Hunderte von Helferinnen und Helfern, um auf den Höfen und Feldern anzupacken: Sulzer schickte Lehrlinge, die Armee detachierte Soldaten. Es kamen Pfadfinderinnen und Hauswirtschaftsschülerinnen, Weinländer Bauern, Eisenbahner oder Feuerwehrleute.
Ihre Hilfe war auch bitter nötig, schliesslich waren die Opfer im besten Alter gewesen, und Haus- und Landwirtschaft in Humlikon waren noch geprägt von Handarbeit. Dank der fremden Hilfe konnte die Herbsternte auch im Katastrophenjahr und den Jahren danach eingefahren werden.
Auch Theodor Flacher musste damals als Halbwaise einen Hof weiterführen und durfte auf wildfremde Menschen zählen. Manche kamen von sehr weit her. Auf den 50. Jahrestag des Unglücks hin begann er, sie wieder zu suchen – zum Teil sogar mit Erfolg.
So besuchten er und seine Frau vor ein paar Wochen eine Engländerin, um ihr persönlich zu danken. Wenn er davon erzählt, beginnen seine Augen zu leuchten: «Diese Unterstützung damals war so gross, die wird man nie vergessen.»
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