Jörg Später
(Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)
»Genesis und Gestaltung von Kracauers Geschichtstheorie«
Siegfried Kracauers letztes und posthum veröffentlichtes Buch Geschichte – vor den letzten Dingen ist ein eigenartiges und eigensinniges Buch, das, kaum verwunderlich, wenig Resonanz gefunden hat. Es steht gewissermaßen exterritorial zu seiner Zeit und den Zeitgenossen, ist aber doch nicht aus der Zeit gefallen. Diese Geschichtstheorie ist das Lebenszeugnis des »wunderlichen Realisten«, eine reife Reflexion über alles, was Kracauer in seinem Leben gelernt hat, und eine gelehrte Abhandlung darüber, was wir über die Welt, in der wir leben, bzw. die vergangene Welt wissen können. History ist gewissermaßen his story und kann daher nur biographisch entschlüsselt werden. Der Vortrag fragt daher nach der (profanen) Genesis von Kracauers Geschichtsbuch. Gleichzeitig darf es durchaus mit einem »Gegenwart-Interesse« gelesen werden (wie er es ausdrücken würde). Es hat Autorität und Aktualität, allerdings weniger als Geschichtsphilosophie (der eine Absage erteilt wird) oder als kritische Theorie des Kapitalismus (darum geht es in dieser Schrift nicht), sondern wegen seines hohen theoretischen wie praktischen Gebrauchswerts für die Wissenschaft und die historische Literatur. Zum Schaden des Fachs und der Öffentlichkeit ist Kracauers letztes Wort über die vorletzten Dinge nach wie vor ein Geheimtipp.
Till van Rahden
(Université de Montreal)
»Lumpen sammeln. Kracauers Suche nach der historischen Wirklichkeit im Spiegelkabinett totalitärer Versprechungen«
Siegfried Kracauers 1969 veröffentlichte Studie Geschichte — Vor den letzten Dingen zählt zu den wichtigsten geschichtstheoretischen Arbeiten des 20. Jahrhunderts, die sich besonders für Historiker_innen des 19. Jahrhunderts lohnt. Kracauer plädiert dafür, genau hinzuschauen und die historische Wirklichkeit im Detail zu entdecken. Der Verzicht auf letzte Fragen, eindeutige Antworten und analytische Präzision öffnet den Blick für Widersprüche und Paradoxien, Zwischenräume und Ambivalenzen. Für den Historiker als Lumpensammler könnte sich Kracauer dabei als ein störrischer Reisebegleiter und als ein eigensinniger Weggefährte erweisen. Das setzt die Bereitschaft voraus, sich auf Abwege zu begeben, dort wo die Hände schmutzig, die Gedanken verschwommen, aber frei, und die Großtheorien fragwürdig werden, um über den Wert der Lumpen nachzudenken, die sich rechts und links des Weges aufstechen lassen.
Moderation: Sidonia Blättler
Internationale Siegfried Kracauer Konferenz
19. Mai 2022
Festsaal, Studierendenhaus, Campus Bockenheim
Frankfurt am Main
Video/Ton/Schnitt: Public noise
© IfS
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